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Panta rei in Herakleia

Copyrigth: Fritz Niemann
Gestern brach der Frühling in Bitola voll aus, alles war panta rei (griechisch = alles fließt) und wir trafen - nachdem wir ausgeschlafen hatten - unsere Vermieterin, die uns auf ihre sonnenbeschienene Dachterasse lud. Wieder war der Café sehr süss und dickflüssig und wir unterhielten uns lange auf Französisch mit Wera. Wie schon früher erwähnt, lehrt sie Psychiatrie an der Universität von Bitola. Zur Zeit erforscht sie das Phänomen der Spielsucht. Daher die vielen Kugelschreiber und Feuerzeuge mit der Aufschrift "Casino Bitola", dachte ich mir. Sie erklärte uns, dass sie auf der einen Seite rund 1000 Personen für eine Studie befragt hat, auf der anderen aber natürlich auch einen Selbstversuch machen musste. Und genau das sei das Problem, fuhr sie fort: sie hätte das lokale Casino einmal betreten und sei nie wieder wirklich rausgekommen. Wenigstens weiss sie, welches Problem die Spielsüchtigen haben - wer selbst einen Hang dazu hat, kann sich leichter in die Menschen hineinversetzen, als wenn er alles nur aus dem Lehrbuch weiss. Wenn sie das mit allen Süchten macht, die die Menschen so haben, muss sie einiges aushalten können. Auch sie erklärte uns, dass die Probleme in Makedonien erst mit dem Zerfall Jugoslawiens angefangen hätten: Makedonien sei vom Drogentransitland zum Drogenkonsumland geworden und die Solidaritätsgesellschaft sei mit dem Einzug des Kapitalismus einer Ellbogengesellschaft gewichen. Was sie erzählte, erinnerte sehr an die Entwicklung, die die frühere DDR genommen hat.
Copyrigth: Fritz Niemann
Ich fragte sie, wie es dazu kam, dass im so friedlichen Bitola, in dem es seit dem ersten Weltkrieg (damals verlief hier die sogenannte Thessaloniki-Front) nie zu Kampfhandlungen kam, im Jahr 2001 plötzlich der Mob tobte, albanische Geschäfte in Flammen setzte und es zu einer regelrechten Hetzjagd auf die albanischen Bewohner Bitolas kam. Rund vier Prozent der Einwohner Bitolas sind Albaner und Wera meinte, dass es eigentlich nie Schwierigkeiten mit ihnen gegeben hätte. Im Juni 2001 wurden drei Polizisten aus Bitola außerhalb von Tetovo, das rund 150 Kilometer von Bitola entfernt liegt, von der Albanian National Liberation Army (NLA) getötet. Am Tag danach zogen rund 1000 Menschen durch Bitola, bewarfen Dutzende von Albanern bewohnte Häuser und 100 albanische Geschäfte mit Molotov-Cocktails und brannte sie nieder. Auch eine Moschee der Stadt wurde zerstört und die Ruine mit dem Slogan "Tod den Skiptaren" besprüht. In einem Bericht von Human Rights Watch wird beschrieben, dass die Polizei nicht eingriff, sondern einzelne Polizisten sich sogar aktiv an den Zerstörungen beteiligten. Wie dem HRW-Bericht zu entnehmen ist, hörte ein Augenzeuge wie die Menge skandierte: "Ihr habt eine Woche, um nach Albanien zu gehen, sonst töten wir Euch alle". Es seien rund 1000 Leute gewesen, keine Frauen und zahlreiche Albaner seien auch tätlich angegriffen worden. Wera erklärte uns, dass sie sich auch nicht erklären könne, weshalb es damals zu dieser Eruption gekommen sei. Es sei wahr, dass das Gros der Albaner gesellschaftlich nicht wirklich integriert sei und ein anderes Wertesystem hätte. Dennoch sei es niemals zuvor und niemals danach zu solchen Ausbrüchen gekommen. Wenn man heute durch Bitola geht, käme man in der Tat nicht auf die Idee, dass es vor nicht allzu langer Zeit in dieser so freundlichen und entspannten Stadt zu solch hässlichen Szenen gekommen ist.
Copyrigth: Fritz Niemann
Nach dem wir uns von Wera verabschiedet hatten, machten wir uns auf dem Weg nach Herakleia, das von Philipp II., des Vaters Alexanders des Großen, im Jahr 359 vor unserer Zeitrechnung gegründet wurde. Der Weg dorthin ist ein gemütlicher Spaziergang, der vom Stadtzentrum rund eine halbe Stunde dauert und an Bitolas Bahnhof und zahlreichen, malerisch gelegenen Friedhöfen vorbei führt. Herakleia entwickelte sich nach seiner Gründung zu einem wichtigen Stützpunkt der Römer an der Via Egnatia, die Byzanz mit dem heutigen Durres an der albanischen Küste verband. Im Jahr 472 fielen die Ostgoten unter Theoderich ein und zerstörten die Stadt, dann wurde sie wieder aufgebaut, nur um im Jahr 518 von einem Erdbeben vernichtet zu werden.
Auf dem Weg nach Herikleia, der uns durch den Stadtpark Bitolas führte, trafen wir zahlreiche Familien, die einen Sonntagsspaziergang machten. Als ich sah, daß ein fröhlicher Familienvater unmittelbar vor uns einen Revolver in seinem Gürtel trug, wurde mir kurz ganz anders. Ob es eine Smith & Wesson oder eine Baretta war, konnte ich nicht feststellen. Wie ein Spielzeug sah das Ding jedenfalls nicht aus, aber vielleicht wollte der gute Mann ja auch nur ein paar Vögel schiessen.
Copyright: Fritz Niemann
Wir waren an diesem schönen Tag jedenfalls die einzigen Besucher Herakleias und sehr viel mehr als erahnen kann man die einstige Pracht dieses einst wichtigsten Ortes der obermakedonischen Landschaft Lynkestis nicht, auch wenn das Amphitheater vor dem Bergpanorama eindrucksvoll ist. Die Ausgrabungsarbeiten sollen aber dieses Jahr wieder aufgenommen werden. Der Eintrittspreis beträgt übrigens 150 Denar (ca. 2,50 €). Wenn man aber auch Fotos machen will, erhört sich der Eintrittspreis um stolze 500 Denar. Wir konnten mit dem sehr freundlichen Kunstverständigen, der sich uns voll und ganz widmen, konnte einen Sonderpreis von 500 Denar für Lisa, die Kamera und mich aushandeln und bekamen auch noch einige interessante historische Informationen dazu. Kristian Criz (er erklärte uns, dass sein Nachname auf makedonisch "Christi Himmelfahrt" bedeutet) erzählte, dass Philipp II. ein Mann gewesen sei, der Wein, Weib und Gesang geliebt hätte und noch vieles mehr, was hier darzulegen zu weit führen würde. Als die Sonne langsam an Kraft verlor, machten wir uns auf den Weg zurück und beendeten den Tag im Panta rei vor unserem "Diplomat" genannten Kamin, der uns vor der bitteren Kälte der Nacht schützt.